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„beHandeln statt verwalten!“

Kampagne zur Sicherung der Gesundheitsversorgung von besonders vulnerablen Geflüchteten

KampagneMenschen, die durch Folter, Verfolgung oder Misshandlung unvorstellbares Leid erlitten haben, sind häufig traumatisiert und bedürfen spezieller Hilfe und Behandlung. Täglich erleben wir in unserer Arbeit die Verzweiflung der Menschen, von denen wir immer nur einem kleinen Teil helfen können, da der deutsche Staat seiner humanitären und mittlerweile auch rechtlichen Verantwortung nicht nachkommt, schwer erkrankten Flüchtlingen psychosoziale und medizinische Hilfe zukommen zu lassen. Weil das Thema in der politischen Debatte jedoch kaum existent ist, fühlt sich im politischen Alltag demnach auch niemand verantwortlich.

Ziel der 2009 durch die BAfF und die IPPNW initiierten Kampagne „beHandeln statt verwalten!“ war die Sicherstellung einer medizinischen und therapeutischen Versorgung für geflüchtete Menschen. Gleichzeitig hat die Kampagne Aufklärungsarbeit über die Folgen von Folter und Menschenrechtsverletzungen jeder Art geleistet. 

15 Jahre „beHandeln statt verwalten!“ ein Blick zurück

Seit dem Kampagnenstart sind inzwischen 15 Jahre vergangen. Wir belassen diese Seite dennoch wie sie ist. Auch, wenn wir heute eine andere Sprache wählen würden, bleibt die Projektseite Zeugnis unserer Forderungen, unserer Analysen und der Finanzierungsmodelle, die wir auf dem Fundament der damals wie heute gültigen grund-, völker- und europarechtlichen Verpflichtungen an die Politik herangetragen haben.

Bis heute wurde keine einzige dieser Verpflichtungen umgesetzt.

Das gesellschaftliche Bewusstsein für die Folgen menschengemachter Gewalt und für die Brutalität der Fluchtwege, die Menschen auf sich nehmen müssen, um sich in Sicherheit zu bringen, ist in den letzten 15 Jahren enorm gestiegen. Im Rückblick auf die Jahre 2015/16 und die Aufnahme geflüchteter Menschen aus der Ukraine seit Beginn des vollumfänglichen Angriffskrieges sehen wir auch Zeitfenster, in denen geflüchtete Menschen große zivilgesellschaftlicher Solidarität, humanitäre Hilfsbereitschaft und private Unterstützung erfahren haben.

Der Rechtsrahmen hingegen, der die Versorgung geflüchteter Menschen sicherstellen muss, die politischen Entscheidungen, die notwendig wären, um Schutzsuchenden in Deutschland ein menschenwürdiges Leben und eine bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung zu ermöglichen, blieben unverändert: Dieser Rechtsrahmen behindert ärztliches, psychotherapeutisches und sozialarbeiterisches Handeln, torpediert das Engagement der Zivilgesellschaft, erschöpft ehrenamtliche Helfer*innen und destabilisiert etablierte Strukturen, die seit Jahrzehnten qualifiziert und effizient auf die Bedarfe geflüchteter Menschen reagieren. Die Gesetzesverschärfungen zum Jahreswechsel 2023/24 bringen all diese Strukturen und Akteur*innen mehr denn je in Bedrängnis.


Der Kampagnenclaim „beHandeln statt verwalten!“ dient inzwischen dazu, auf ein weiteres, ebenso wichtiges wie unverändert menschenrechtswidriges Problem aufmerksam zu machen: Abschiebungen aus dem Krankenhaus. Abschiebungen aus stationärer Behandlung sind ein schwerer Eingriff in die medizinische Behandlung und können den Gesundheitszustand der betroffenen Person massiv und langfristig verschlechtern. Niemand weiß, wie hoch die Dunkelziffer solcher menschenrechtswidriger Abschiebungen ist. Deshalb wurde durch die IPPNW erstmals eine unabhängige bundesweite Meldestelle etabliert, über die Vorfälle von Abschiebungen und Abschiebeversuchen aus dem Krankenhaus dokumentiert werden können: zur Meldestelle.

Den Status quo in den einzelnen Bundesländern und eine klinische sowie rechtliche Bewertung der Praxis haben auch wir auf dieser Seite zusammengestellt: Abschiebungen aus dem Krankenhaus.

Ab hier folgt nun die Projektseite aus dem Jahr 2009.


Rechtliche Ausgangslage und europäische Verpflichtungen

Sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene existieren rechtliche Bestimmungen und Richtlinien, die eine Versorgung von besonders schutzbedürftigen Geflüchteten sicherstellen sollen. Beispielsweise wird in der EU-Richtlinie 2004/83/EG geflüchteten Menschen mit besonderer Schutzbedürftigkeit rechtsverbindlich Hilfe garantiert. So ist dort unter anderem festgelegt, dass vor allem Personen mit besonderen Bedürfnissen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt wird. Darunter fallen zum Beispiel Schwangere, Überlebende von Folter, Vergewaltigung oder sonstigen schweren Formen psychischer, physischer oder sexualisierter Gewalt, Minderjährige und Menschen mit Behinderungen.

Die Realität

In Deutschland sieht die Realität jedoch anders aus. Nach dem deutschen Gesetz erhalten Asylbewerber*innen nur bei akuten Erkrankungen medizinische Hilfe. Die Gewährleistung von Psychotherapie ist jedoch lediglich eine „Kann“-Bestimmung und obliegt im Einzelfall dem Ermessen der jeweiligen Kreisverwaltungen. Die Umsetzung der o. g. EU-Richtlinie ist nur für eine Asylbewerber*innengruppe vorgesehen, die es in Deutschland faktisch kaum gibt: Personen, die eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 24 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes besitzen. Das Gros der Asylbewerber*innen wird davon nicht erfasst. Zudem erfordert eine sinnvolle Behandlung psychisch traumatisierter Geflüchteter eben nicht nur Psychotherapie. Meist sind Dolmetscher*innen notwendig, da wenig herkunftssprachliche Therapeut*innen zur Verfügung stehen. Die Psychotherapeut*innen müssen entsprechende Qualifikationen besitzen. Niederschwellige Kriseninterventionen – ebenfalls mit Sprachmittler*innen – sind notwendig, daneben braucht es flankierende psychosoziale Hilfen.

Handlungsbedarf

Diese Hilfen werden zwar von den eingangs genannten Psychosozialen Zentren geleistet, jedoch ist deren Kapazität bei weitem nicht ausreichend, um die jeweiligen Bedarfe bzw. eine flächendeckende Versorgung zu gewährleisten. Bisher tragen sich die meisten Zentren über eine prekäre Mischfinanzierung aus EU-Geldern, kommunalen und Landeszuwendungen bis hin zu Geldern der UN, anderer Organisationen, verschiedener Stiftungen, Lottomitteln vergebender Institutionen sowie der Kirchen, der Wohlfahrtsverbänden und weiteren. Es findet auch eine finanzielle Aufstockung durch Spenden und Sponsor*innen statt, nur sind diese Mittel wegen des relativ kleinen Unterstützer*innenkreises sehr begrenzt. Die Anfälligkeit einer derartigen Finanzierung ist offensichtlich und wird sich existenziell nach Rückzug der EU aus der Förderung im Jahre 2010 zuspitzen. Mittel werden selten langfristig bewilligt, so dass laufend nach neuen Geldgebern gesucht werden muss; die dafür notwendigen personellen Aufwendungen gehen der eigentlichen Patientenbetreuung verloren. Auch für diejenigen Flüchtlinge, die bereits einen Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung haben, ist das Verfahren und die Abrechnung derart langwierig und schwierig, dass nur wenige Therapeuten und Klienten letztendlich die Therapiearbeit beginnen können. Darüber hinaus sind nicht ausreichend spezialisierte Trauma-Experten für die spezielle Zielgruppe vorhanden.

Wesentlicher Impuls

Die Idee zu der Kampagne wurde bei uns durch das Beispiel Dänemark angestoßen, wo durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit eine gute und flächendeckende Versorgung für die meisten Flüchtlinge erreicht werden konnte. Da es derzeit in Deutschland keine politische Vertretung für besonders vulnerable Flüchtlinge gibt und im Aufnahmeprozess kein Verfahren zur qualifizierten Diagnostik der Behandlungsbedürftigkeit durchgeführt wird, ist das Thema in der politischen Debatte kaum existent. Im politischen Alltag fühlt sich demnach auch kaum jemand verantwortlich für dieser Flüchtlinge.

Langfristige Ziele

Hauptziel der Kampagne war die Sicherstellung einer medizinischen und therapeutischen Versorgung besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus. Als langfristiges Ziel gilt ebenso die Aufklärung der Gesellschaft über die Folgen von Folter und Menschenrechtsverletzungen jeder Art.

Unsere konkreten Forderungen und Ziele für die Versorgung von traumatisierten Flüchtlingen sind:

  • Früherkennung von Vulnerabilität zur Einleitung von geeigneter Unterstützung und Behandlung
  • Gespräche und Diagnose mit Hilfe von DolmetscherInnen
  • Unterbringung in einer geeigneten Unterkunft
  • Schnelle psychosoziale, ärztliche und psychotherapeutische Hilfen
  • Unterstützung beim Asylverfahren
  • Übernahme von Fahrtkosten zur Behandlung
  • Finanzierung von psychosozialer Begleitung und spezialisierter psychotherapeutischer Behandlung einschließlich der Dolmetscherkosten in Behandlungszentren

Etappenziele

Auf dem Weg zu einer nachhaltigen Beeinflussung der rechtlich medizinischen Misslage von besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen werden mit der Kampagne folgende wichtige Etappenziele angestrebt:

  • Publikmachen der Misslage besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge durch Aufklärungsarbeit
  • Entwicklung eines breiten Verständnisses für die Lebenssituation von Flüchtlingen
  • Förderung einer differenzierteren Wahrnehmung menschlicher Extremerfahrungen im Zusammenhang mit Tod, Lebensbedrohung, Leid und politischer Verfolgung
  • Wahrnehmung von Flüchtlingen als gesellschaftliche Gruppe mit berechtigtem und rechtmäßigem Anliegen
  • Erinnerung an die humanitäre Verantwortung in Bezug auf den Umgang mit Menschrechtsverletzungen
  • Gestaltung eines gesellschaftlichen Selbstverständnisses, das Vielfalt und Differenzen zu integrieren vermag
  • Erzeugung von politischem Druck aus der Mitte der Betroffenen und den ihnen solidarisch Verbundenen
  • Mobilisierung weiterer Mitglieder und Gruppen der Zivilgesellschaft zur Unterstützung unseres Anliegens

Resonanz & neue Bündnisse

Aus der Kampagne hat sich eine Arbeitsgruppe aus JuristInnen, SozialrechtsexpertInnen, VertreterInnen der Wohlfahrtsverbände und weiteren KooperationspartnerInnen gebildet, die parallel aus ihren unterschiedlichen Hintergründen politische EntscheidungsträgerInnen sensibilisiert hat.

Auf einer ExpertInnen-Tagung im Deutschen Institut für Menschenrechte wurden 2010 erstmals konkrete Finanzierungsmodelle zur Sicherstellung der Versorgung für Geflüchtete diskutiert. In dieser Zeit verbreiterte sich das Bündnis, das unsere Forderungen mit- und weiter tragen konnte:

So widmete sich der 18. deutsche Psychotherapeutentag im Jahr 2011 verbunden mit der Preisverleihung des „Diotima-Ehrenpreises“ der BPtK an die BAfF, speziell dem Thema „Psychotherapeutische Betreuung von Menschen mit Migrationshintergrund“: Die deutsche PsychotherapeutInnenschaft setzte in ihrer Ansprache ein deutliches Zeichen für die Notwendigkeit der qualifizierten Behandlung von Menschen, die Folter, Gefängnisaufenthalte, Verfolgung und Flucht überlebt haben.

Prof. Dr. Rainer Richter, Präsident der BPtK, betonte dabei in seiner Ansprache, wie bedeutend angesichts der prekären Versorgungssituation eine „nachhaltigere öffentliche Förderung“ der Behandlungszentren, inklusive der Kostenerstattung für DolmetscherInnen und v.a. soziale Beratung sei.

Auch Frau Staatsministerin Prof. Dr. Maria Böhmer, Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, wies im Dialog auf der Festveranstaltung darauf hin, dass Politik, die zukunftsorientiert sein wolle, nur auf Grundlage sowohl des körperlichen und seelischen Wohlbefindens der Zugewanderten etabliert werden könne – dabei sei insbesondere im Rahmen der psychotherapeutischen Versorgung eine Behandlung durch mit Herkunftssprache und –Kultur vertrauten ExpertInnen unabdingbar.

Schließlich sind wir 2012 auf einer Fachtagung mit rechtlicher, wissenschaftlicher und berufspraktischer Expertise an die Politik herangetreten und haben erstmals Versorgungsdaten zur Situation geflüchteter Menschen in Deutschland vorgestellt und Modelle aufgezeigt, anhand derer sich die Situation der defizitären gesundheitlichen Versorgung von traumatisierten Flüchtlingen in Deutschland aus Sicht der Fachöffentlichkeit verbessern ließe.

Status Quo 2024 – Was bleibt?

Das Fachwissen zur psychosozialen Versorgung geflüchteter Menschen, die Datenlage zum Versorgungsbedarf und den Folgen der eklatanten Versorgungslücken hat sich nun – 15 Jahre nach Kampagnenstart – enorm verbreitert. Das Netzwerk der in der BAfF zusammen geschlossenen PSZ hat sich von damals 24 auf heute 48 Einrichtungen verdoppelt. Neue Akteur*innen sind potentiell bereit, sich an der Beratung und Behandlung geflüchteter Menschen zu beteiligen – und stoßen bei der Umsetzung ihres Versorgungsauftrags an die gleichen Grenzen wie die PSZ zur Zeit des Kampagnenstarts.

Die Verantwortlichkeit wurde jahrelang von Leistungsträger zu Leistungsträger, von der Bundes- auf die Länderebene und wieder zurück verschoben. So fühlte sich das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, damals unter Franz Müntefering, nicht angesprochen – die Zuständigkeit läge beim Innen- bzw. beim Gesundheitsministerium. Das Gesundheitsministerium jedoch, damals unter Ulla Schmidt, sieht sich nur für Mitglieder der Gesetzlichen Krankenversicherungen zuständig – wenden müsse man sich an das Innen- bzw. das Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Das Innenministerium seinerseits verwies uns daraufhin auf die Zuständigkeit der Länder. Das Ministerium Familie, Senioren, Frauen und Jugend behauptete gar, die Versorgung sei bereits sichergestellt, da bundesweit bereits vier Zentren unterstützt würden – das reiche aus, so die damalige Ministerin Ursula von der Leyen. Die Bundesregierung sieht sich für die Unterversorgung von in Deutschland Schutz suchenden Opfern schwerer Gewalt also in keiner Form in der Verantwortung.

Bestandsaufnahme der BAfF zur Umsetzung der Versorgungsverpflichtungen 2012

„Das Problem ist in der Politik bekannt, seit langem. Gerade kommen so viele Schutzsuchende ins Land wie lange nicht. Trotzdem plant niemand in verantwortlicher Position, dafür zu sorgen, dass mehr Geflüchtete therapiert werden. Im Gegenteil. Die Kommunen sagen, sie haben kein Geld, die Länder ebenso. Und der Bund gab Ende Juli bekannt, dass er seine Zuschüsse für die Psychosozialen Zentren kürzen will – als Teil seiner Sparpläne, um den Bundeshaushalt für das kommende Jahr weniger zu belasten.“

Anette Dowideit & Gabriela Keller (Correctiv) zur Bewertung des politischen Status Quo 2023

Migrationspolitische Verbesserungen, die in den Jahren ab 2014 umgesetzt wurden, folgten dutzende restriktive Gesetzesänderungen – ihren Höhepunkt bildet 30 Jahre nach dem menschenverachtenden Asylkompromiss in den 90er Jahren die Einigung auf das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) und das Rückführungsverbesserungsgesetz.

Download: „beHandeln statt verwalten! Gesundheitliche Versorgung besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge“ (2012 | PDF) [Status Quo, Finanzierungsmodelle & Handlungsempfehlungen zur Umsetzung der staatlichen Verpflichtungen]